Es ist halb zehn am Morgen und ich laufe etwas schneller als ich gerne hätte die 400 Meter zum Sammelpunkt des Shuttlebusses, der mich die 21 Kilometer zur Arbeit bringt. Etwas ist anders heute als in den letzten Tagen. Zuerst denke ich, dass es daran liegt, dass es ein paar Grad wärmer ist als die letzten 3–4 Wochen. Das erste Mal deutlich über 0 Grad. Ich hetze – der Aufzug in’s Erdgeschoss brauchte 3 Minuten um seine Türen für mich zu öffnen, eine Ewigkeit bei meiner knappen Zeitplanng morgens – über die 3rd Avenue, dann blicke ich auf: da ist es, das Wasser, einer der Endzipfel des Puget Sound. Er ist grau wie der Himmel, ich kann eine Fähre sehen. Ich schließe die Augen, denn ich muss an der Kreuzung eh warten, der Bus hier wartet schon ewig darauf, dass die Menschen vor mir den Überweg frei machen. Ich atme tief ein. Stickige Luft findet man ist Seattle so gut wie nie, dafür weht immer ein wenig Wind, das Meer ist nah. Stuttgarts Feinstaubwerte findet man hier nicht mal direkt an einer Hauptverkehrsstraße bei 30 Grad zwischen den Hochhäusern in Downtown. Doch die Luft heute ist besonders frisch, klar, und man kann das Meer riechen. Selbiges kann man verdammt selten riechen, dafür, dass das Salzwasser nicht mal einen Kilometer Luftlinie entfernt ist. Ich genieße die frische Luft, öffne die Augen und setze meinen Weg zum Bus etwas entspannter fort.
Ich bin ja keiner dieser Menschen, die sich einmal ein Nest bauen und dann bloß keine Veränderung wollen. Ich habe gerne ein Zuhause und Orte zum Wohlfühlen, ein Leben, das mir gefällt. Ich kann verstehen, dass Menschen wenig oder keine Veränderung wollen. Ich kann verstehen, dass Menschen sich nicht vorstellen können weit weg von ihrer “Heimat” zu leben. Ich habe ja selbst mein komplettes Leben in einem 60-Kilometer-Radius um Stuttgart herum gelebt. Das tat ich, weil es mir da gefallen hat und noch immer gefällt. Einer der Gründe für den Umzug war aber auch, dass es eine schöne Gelegenheit war mal woanders zu leben. Wäre davor eine Türe nach Berlin, London, Paris oder Oslo aufgegangen, gut möglich, dass ich durch sie hindurch gegangen wäre. Bei mir war es eben dann 2015 Seattle.
Im Kleinen kann ich aber auch nicht gut an einem Status Quo festhalten. Ich bin nicht der Mensch, der sagt: “so, ich habe jetzt genug Menschen kennengelernt”. Ich kann nicht sagen: “so, ich bleibe in meiner Freizeit immer nur in meinen eigenen vier Wänden, ich lebe in meiner eigenen kleinen Welt!”. Ich muss raus. Ich brauche die frische Luft. Das ist auch so eine Sache, die ich aus meiner Depri-Zeit, aus meinem schwarzen Hund gelernt habe. Ohne die frische Luft, ohne Menschen, Natur, Kultur und ErLEBEN gehe ich kaputt. Ich brauche sie so sehr zum Leben, die frische Luft.